Sauerstoff brauchen wir zum Leben. Sauren Stoff brauchen wir in der Küche, denn er macht viele Speisen lebendiger.
Wir lassen uns gerne Saures geben – vor allem, wenn es sich um so feine Preziosen handelt wie bei unserem großen Essig-Award. Schließlich haben wir österreichische und deutsche Produzenten darum gebeten. Unser Appell: Reichen Sie Ihre besten Produkte zu unserer Verkostung ein und stellen Sie sich unserer Experten-Jury. Und dieser Aufforderung sind zahlreiche Hersteller gefolgt. 70 Fläschchen mit essigsauren Essenzen türmten sich in unserer Redaktion und wurden schließlich in den vier Kategorien Obst-Essig, Gemüse- & Blüten-Essig, Wein- & Bier-Essig sowie Balsamico-Essig in einer Blindverkostung auf Herz und Nieren – oder besser: auf Säure und Süße – untersucht. Die Sieger unseres Essig-Awards 2020 stehen fest und wir gratulieren herzlich.
Doch bevor wir zu den Gewinnern kommen, wollen wir uns dem Produkt Essig an sich widmen und uns ansehen, wie er hergestellt wird und wie man ihn in der Küche einsetzen kann.
Sauerstoff-Erzeugung
Wie kommt man zu dem edlen Sauerstoff? Eigentlich ganz leicht, denn im einfachsten Fall lässt man ein alkoholisches Getränk mit vier bis sieben Volumsprozent offen stehen. Am besten geeignet dafür ist ein warmer Ort. Ganz von selbst siedeln sich dann wilde Essigbakterien an, als Überträgerin fungiert zum Beispiel – und wer wäre dafür wohl besser geeignet – die Essigfliege. Diese Essigbakterien oxidieren in Kombination mit Sauerstoff den enthaltenen Alkohol zu Essigsäure und Wasser. Wenn diese Bakterien ihre Arbeit erledigt haben, sammeln sie sich als gallertartige Masse auf der Oberfläche an, als sogenannte Essigmutter.
Man spricht beim Essig also genau genommen nicht von Vergärung, sondern von Veratmung des Alkohols, da hier im Gegensatz zur alkoholischen Gärung Sauerstoff aus der Luft nötig ist. In kommerziellen Essigproduktionen läuft die Sache im Grunde genauso ab, nur warten Profis nicht auf die Essigfliege, sondern arbeiten mit Essigbakterien, die gezielt geimpft werden.
Der König unter den Essigen
Als Grundprodukt für Essig eignet sich eigentlich fast alles: Wein oder Bier, vergorenes Obst oder Gemüse, Malz oder Reis, aber auch zum Beispiel Honig für Met-Essig. Der König unter den Essigen jedoch ist ohne Frage der Aceto Balsamico. Das Original stammt aus den italienischen Provinzen Modena und Reggio Emilia und dessen Herstellung unterliegt strengen Bestimmungen, die in einem entsprechenden Erlass von 1965 festgelegt wurden. Dieser „Aceto Balsamico Tradizionale di Modena“ wird aus besonders reifen und daher sehr süßen Trebbiano-Trauben hergestellt und reift dann einige bis viele Jahre in speziellen Holzfässern. Da nie der ganze Zucker in Alkohol und somit in Essig umgewandelt werden kann, schmeckt ein solcher Essig immer süßlich. Je länger er lagert, desto dickflüssiger und geschmackvoller wird er. Leider ist nicht alles, was süß, schwarz und teuer ist, auch wirklich ein echter Balsamico. Im Supermarkt sind auch günstige Alternativen erhältlich, die mit Sirup gesüßt und mit Zuckercouleur dunkel gefärbt werden.
Gib der Küche Saures
Kommen wir nun zu der Verwendung von Essig in der Küche – wobei hier der Platz ohnehin nicht reichen würde, um alle Möglichkeiten aufzuzählen. Denn Essig gehört nicht nur in das Salatdressing, sondern eignet sich auch als Marinade für Grillfleisch, gibt Saucen den letzten Schliff, verfeinert Suppen und der süße Aceto Balsamico macht sich auch auf Vanilleeis oder frischen Erdbeeren ganz großartig, ebenso wie zu einem Stück alten Parmesan. Besonders hochwertige Essige können sogar pur oder eins zu eins mit Wasser oder Fruchtsaft verdünnt als Aperitif oder Digestif getrunken werden.
Sauer macht lustig – und gesund
Bereits Hippokrates wusste, dass Essig bei Atemwegserkrankungen und Verdauungsbeschwerden helfen kann. Im Mittelalter galt vor allem Kräuteressig als Heilmittel. Hildegard von Bingen und Nostradamus berichteten in ihren Büchern von der desinfizierenden Wirkung von Essig. Von Pfarrer Kneipp stammt der sogenannte Essigstrumpf gegen Durchblutungsstörungen, Einschlafprobleme und Nervosität. Dazu vermischt man vier Teile lauwarmes Wasser mit einem Teil Essig, taucht Baumwollstrümpfe darin ein, zieht sie an und lässt sie eine Stunde einwirken. Als Essig-Patscherl soll er auch fiebersenkend wirken. Es heißt, dass die Menschen noch im 18. Jahrhundert versucht haben, sich vor der Pest zu schützen, indem sie ihren ganzen Körper mit Essig einrieben.
Die Sieger
Nun kommen wir wie versprochen zu den Gewinnern unseres Essig-Awards 2020. Hervorheben möchten wir die vier Produzenten, die mit ihren Essigen von unserer GENUSS.Jury die Höchstbewertung von fünf Punkten erhalten haben.
In der Kategorie „Obst-Essig“ dürfen wir einem der bekanntesten Essigproduzenten des Landes gratulieren. Alois Gölles erzielte mit seinem Himbeer-Essig die Höchstwertung. Als Gölles im Jahr 1979 seine Ausbildung abgeschlossen hatte, stand er vor der Alternative, entweder den Obstbau auszuweiten oder ein zweites Standbein aufzubauen. Nachdem sich zu diesem Zeitpunkt bereits eine gewisse Marktsättigung und Überproduktion auf dem Frischobstsektor abzeichneten, entschied er sich für Zweiteres und begann, Obst auf verschiedene Art und Weise zu veredeln. Ursprünglich zu Fruchtsaft und -wein, Essig und Schnaps, wovon Essig und Schnaps heute noch erzeugt werden und inzwischen den Haupterwerb darstellen. Gibt es eine favorisierte Frucht für die Essigproduktion? „Nein“, sagt Gölles, „aber wir legen großen Wert auf alte, rare Obstsorten, die wir selbst anbauen: Maschansker Apfel, Kriecherl, Saubirne und Hauszwetschke, um nur die wichtigsten zu nennen.“
Aus einem besonderen Ausgangsprodukt erreichte Essigspezialist Lenz fünf Sterne: Die Calamansi ist eine Kreuzung aus Kumquat und Mandarine und schmeckt süß-sauer nach Limette, Mandarine, Orange und Zitrone. Eigentlich begann alles im Jahr 1968 mit dem Anbau von Champignons, die Ernst Lenz für die Vorarlberger Gastronomie züchtete. Tochter Bettina, studierte Betriebswirtschaftlerin, übernahm die Firma von ihrem Vater und erschuf visionär, mutig und kreativ etwas Neues – unter anderem eine eigene Linie edler Essige und Öle. Und das mit Erfolg, wie unsere Verkostung eindrucksvoll bewies.
In der nächsten Kategorie, jener der „Gemüse- & Blüten-Essige“, treffen wir erneut auf Alois Gölles und seinen Spargel-Essig. Ein wunderbar frischer Spargelduft stieg in die Nasen der GENUSS.Jury und der pure Spargelgeschmack begeisterte am Gaumen. Eine gut eingebundene Säure in Kombination mit einer leichten Süße ergab ein harmonisches Gesamtbild. „Die Quintessenz eines Spargels“, lautete das begeisterte Urteil. Volle fünf Punkte.
In der Kategorie „Wein- & Bier-Essig“ landen wir im schönen Südburgenland beim Essighersteller Hirmann. Der Uhudler-Essig des alteingesessenen Familienbetriebs erreichte die Höchstnote – und das nicht ohne Grund. Kirschrote Farbe, Geruch nach roten Beeren und im Geschmack „Walderdbeeren pur“. Dazu eine harmonische Kombination aus Süße und Säure, und das Essigerlebnis ist perfekt.
Kommen wir nun zur Königsklasse unter den Essigen, dem „Balsam-Essig“. Neben Alois Gölles, dem wir in unserer Verkostung somit zur dritten Höchstwertung gratulieren dürfen, treffen wir hier gleich zwei Mal auf Herwig Pecoraro. Der gelernte Konditor, ehemalige Polizist und heutige Staatsopernsänger ließ sich während seines Musikstudiums in Modena in die Geheimnisse der Herstellung von Aceto Balsamico Tradizionale einweihen. Zurück in Österreich gründete er 1998 in Klosterneuburg die Acetaia Pecoraro und baute seinen Keller so um, dass das dort herrschende Klima jenem eines Dachbodens in Modena entspricht. Seither produziert er einen 6-jährigen Apfel-Balsamico sowie zwei Aceti Balsamici mit 9- und 15-jähriger Reifung – und das exakt nach den strengen Tradizionale-Regeln der Acetaie von Modena. Unter dem Titel „Tradizionale“ darf er seine Produkte zwar trotzdem nicht verkaufen, aber er beweist ständig aufs Neue, dass es sein stattdessen benannter „Aceto Balsamico nach traditioneller Art“ locker mit dem Original aus Modena aufnehmen kann. Dass sein 15-jähriger Essig mit 112 Euro pro Fläschchen zu Buche schlägt, argumentiert er so: „Für einen Liter Balsamico benötige ich immerhin über 100 Liter Traubenmost.“ Und das Geschmackserlebnis ist sowieso unbezahlbar …
Die GENUSS.Jury
Unter der Leitung von GENUSS.Redakteurin Angelika Kraft (Sommelière & Diplom-Kaffeesommelière) verkosteten: Romana Fertl (Lebensmitteltechnologin), Herbert Lehmann (Food-Fotograf), Ursula Ludwig (Weinakademikerin), Alexander Lupersböck (GENUSS.CR-Stellvertreter und Weinakademiker), Klaus Postmann (GENUSS.Chefredakteur, Weinakademiker und Diplom-Kaffee-Sommelier), Susanne Prochaska (Genussführerin und Kräuterpädagogin), Erich Schöller (Sommelier, Sparkling Wine-Sommelier und Biersommelier)
GENUSS.Verkostungen - Das 5-Sterne-System
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