Sagenumwoben ist es, das Tatar. Die einen schreiben es dem wilden Reitervolk der Tataren zu, die angeblich Fleisch unter ihrem Sattel weich geritten haben sollen, andere gehen den eleganteren Weg und meinen, dass Meisterkoch Auguste Escoffier der Erfinder dieser Delikatesse gewesen sei und begründen die These mit der Tatsache, dass ebendieser in seinem 1903 erschienenen Kochbuch ein „Beefsteak à la Tartare“ anführt, bei dem gewürztes, rohes Rinderfaschiertes mit einer separat gereichten Sauce Tartare serviert wird. Tatsächlich erscheint die Sauce Tartare, eine Mayonnaise-Sauce mit kleingehackten Cornichons, Kapern, Kräutern, Senf und Gewürzen, schon viel früher in der Fachliteratur als das heute bekannte Tatar.
Beide Thesen – sowohl die Legende um die Tataren als auch das Kochbuch des Escoffier – sind mitnichten historisch belegt. Tatsächlich kennt man das Tatar seit Urzeiten. Der Name Tatar leitet sich vom griechischen „tartaros“ ab, das zu Deutsch „Hölle“ bedeutet. Deshalb wäre auch die Schreibweise „tartar“ die richtigere (wie im Französischen „tartare“), wenngleich sich die ohne „r“ heute im deutschsprachigen Raum eingebürgert hat. Und genau in diesem griechischen Kulturkreis muss man nach den Ursprüngen des Tatar suchen und wird fündig: Bis heute ist die griechische wie auch die verwandte türkische Küche bekannt dafür, dass man Fleisch bevorzugt fein hackt, bevor es entweder roh genossen wird, oder auf dem Grill landet. Betrachtet man den Kultur-Raum näher und begibt sich auf die Levante, so findet man Tatar von vielen Fleischsorten, nicht nur vom Rind, sondern auch von Kalb, Pferd, Lamm, Schaf und sogar Innereien – eine Spezialität der libanesischen Fleischer ist das Kombinieren von Leber mit Fleisch zu einem feinen, fast breiartigen Tatar, das nur dezent mit Lauch, Salz und einem Hauch Pfeffer gewürzt wird. Wer jemals die Kunstfertigkeit dieser Fleischer bestaunen konnte, wie sie mit machetenartigen Schwertern das Fleisch zu feinstem Tatar hacken, wird wissen, warum man diese Zubereitung mit der „Hölle“ gleichsetzte.
Über Byzanz gelangten viele Rezepte vom Orient in den Okzident, vor allem nach Venedig und Italien. So verwundert es wenig, dass man hier Zubereitungen von rohem Fleisch Jahrhunderte vor dem Steak kannte. Carne cruda und Ähnliches war lange vor der „bistecca“ in italienischen Munden – die bistecca zog erst mit den angloamerikanischen Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg in die italienische Küche ein, wie schon der Name belegt: Bistecca leitet sich schlicht und einfach von „Beefsteak“ ab.
Warum das rohe Fleisch nicht früher in der Kochbuchliteratur auftaucht, ist leicht erklärt – es war eine rustikale Speise, die die feinen höfischen Gaumen nur wenig erfreute und auch die Köche meinten, nicht mit Tatar reüssieren zu können, weil es nicht gegart wird. Ein bis heute gängiges Vorurteil hüben wie drüben.
Essen als diplomatisches Instrument
Belegt ist allerdings ein berühmtes Gastmahl, das der französische Botschafter Talleyrand beim Wiener Kongress dem russischen Zaren vorgesetzt hat. Der für seine feinen Intrigen bekannte Botschafter hieß seinen Meisterkoch Antoine Carême an, dem russischen Zaren ein betont einfaches Mahl vorzusetzen, um diesen dadurch zu beleidigen beziehungsweise die Missachtung auszusprechen – Essen war schon immer auch ein politisches Instrument. Antoine Carême tat, wie ihm geheißen, nur auf seine unnachahmliche Art. Er servierte unter anderem Weinbergschnecken in der bis heute weltberühmten Burgunder-Art (mit der feinen Knoblauch-Kräuterbutter) und auch ein Tatar, verfeinert mit edelstem Dijon-Senf und einer feinen Kräuter-Sauce, bei der es sich höchstwahrscheinlich um eine Sauce Tartare gehandelt hat.
Talleyrand hatte die Rechnung ohne seinen genialen Koch gemacht – der Zar war von dem „einfachen“ Mahl begeistert. Und diese Begeisterung kannte keine Grenzen, denn das Tatar war alsbald ein Fixpunkt in der russischen Küche und die Schnecken zogen in die feine französische Küche ein. Vor dem Zaren-Mahl waren Schnecken in der Hofküche Frankreichs als „Arme-Leute-Speise“ verpönt – aber was dem verwöhnten Zaren geschmeckt hat, musste gut sein und kam in Mode. Zusammen mit dem Tatar, das nun ebenfalls salonfähig wurde. Die Küche Carêmes intensiv studiert habend, habe ich ein Rezept nachempfunden, wie es beim Wiener Kongress serviert worden sein könnte – es steht im Anhang.
Übrigens: Mit den deutschen Auswanderern gelangte das gehackte Fleisch in die USA, wo es als sogenanntes Hamburger-Fleisch unter anderem als „Hamburger“ seinen Siegeszug um die Welt antrat. Ob den antiken Köchen des Altertums bewusst war, was sie da für eine Gaumenfreude kreiert haben, bleibt zu bezweifeln – aber nomen est omen, denn das „tatar“ ist tatsächlich höllisch gut.
GENUSS.Tipp
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