Fruchtbarer Halbmond

Ein Artikel von Rupert Henning | 11.09.2013 - 00:00

Eine der Wiegen der Menschheit. Jeder Fußbreit Boden von kulturgeschichtlicher Bedeutung. Das Hochland des legendären fruchtbaren Halbmondes gehört zu jenen Orten, an denen der Homo sapiens vom umherstreifenden Jäger und Sammler zum sesshaften Viehzüchter und Ackerbauern wurde. Man nutzte die günstigen klimatischen Bedingungen, um aus wildwachsenden Pflanzen Kulturgewächse zu machen, baute Dörfer und Städte, entdeckte die Geheimnisse der Metallherstellung und schuf das erste Alphabet. Naher Osten: Überall Spuren bedeutender Kulturen, Kreuzungspunkte zahlreicher Völker, manifestiert in mystischen antiken Ruinen, Kreuzritterburgen und abgeschiedenen Klöstern, in Basaren, Moscheen, Synagogen und Kirchen, in Sitten, Gebräuchen und Sprachen, in den unzähligen Geschichten und im vielfältigen Essen der Region. Und natürlich auch im Wein. Er kann keinen Wein trinken. Er würde gerne, aber er kann einfach nicht. Seine Leute blicken ihn fragend an. Danke, kein Wein. Die anderen warten schweigend, bis er weiterredet. Sie wissen schließlich, woher er kommt, sie haben die Nachrichten verfolgt. Trotzdem haben sie keine Vorstellung davon, was er erlebt hat.

Das war so eine Sache im Libanon. Im Auftrag der Hilfsorganisation, für die er seit Jahren als Arzt arbeitet, hat er syrische Flüchtlinge betreut, die zu Tausenden über die Grenze kamen, auf der Flucht vor dem Irrsinn des Bürgerkrieges: verstörte Menschen aus einem zerstörten Land. Er erzählt von einem Bauern aus der Nähe von Aleppo. Die Frau und beide Söhne des Mannes starben, als eines Tages Granaten im Dorf einschlugen. Nur die kleine Tochter und der Bauer selbst haben überlebt. Die Züge dieses Mannes, erzählt er, waren völlig versteinert. Er sprach kein Wort, er starrte immer nur stumm geradeaus. Sie waren gerade mit anderen Flüchtlingen zwischen Obst- und Weingärten in der Nähe der libanesischen Stadt Baalbek auf der Ladefläche eines Lastwagens unterwegs, als der Syrer plötzlich zu weinen begann, ohne dabei eine Miene zu verziehen. Die Tränen liefen ihm einfach minutenlang über das versteinerte Gesicht, während er seine Tochter hielt und der Lastwagen auf einer Straße zwischen grünenden Weingärten dahinfuhr. Später im Flüchtlingslage rerzählte der Mann dann irgendwann doch seine Geschichte: mit leiser Stimme und einem Kopfschütteln, als könne er selbst nicht glauben, was geschehen war. Die Panzer kamen durch seinen Weingarten. Er weiß nicht einmal, ob es eine Granate der Rebellen oder eine der syrischen Armee war, die seine Frau und seine Söhne getötet hat.

Noch vor nicht allzu langer Zeit wurden Touristen kreuz und quer durch diese Gegend geführt, die Touren durch die Weinbaugebiete des Vorderen Orients waren beliebt. Seit Jahrtausenden baut man hier Reben an, schon seit vorbiblischen Zeiten. Semitische Völker kultivierten die Rebstöcke und trieben regen Weinhandel erst die Aramäer, dann die Phönizier. Im Alten Testament ist es nachzulesen. Später waren es Römer, Juden, Christen. Die Weinkultur in dieser Gegend kam nie ganz zum Erliegen, auch wenn der Islam sich mehr und mehr ausbreitete. Wein wächst in der fruchtbaren Bekaa-Ebene im Libanon, in den syrischen Hügeln nahe Damaskus und Aleppo, auf den vulkanischen Böden der Golan-Höhen. Aber derzeit bucht niemand eine Wein-Tour in die Gegend. Das Außenministerium spricht von „unvorhersehbarer Lageentwicklung“, warnt ausdrücklich vor Reisen in diesen Landstrich und empfiehlt allen dort verbliebenen Landsleuten mit Nachdruck, die Region möglichst schnell zu verlassen. Hunderttausende Tote, Millionen Flüchtlinge. Überall schwer bewaffnete Soldaten, Milizen, Rebellen, islamistische Kämpfer, Terroristen, Söldner. Dazwischen internationale Helfer und Journalisten, die Zeugen einer der schlimmsten humanitären Katastrophen der letzten Jahrzehnte werden. Der Krieg schwappt längst über die syrischen Grenzen: nach Israel, in den Libanon, nach Jordanien, in die Türkei. Naher Osten, fruchtbarer Halbmond: Pulverfass. Krisenherd. Chaos. Jetzt ist er für ein paar Wochen zurückgekehrt nach Österreich. Seine Familie lebt in der südlichen Steiermark, nahe der Grenze zu Slowenien. Er fährt durch die Stille der Frühlingslandschaft, auf einer Straße zwischen grünenden Weingärten. Seine Leute sind froh, dass er heil wieder da ist. Aber als sein Vater ihm ein Glas Wein einschenken will, schüttelt er nur den Kopf. Danke, kein Wein. Es bringt natürlich gar nichts, keinen zu trinken. Hilft keinem, ändert nichts. Aber er kann einfach nicht.